Papst Franziskus hat während einer Generalaudienz im Dezember 2021 im Vatikan Paare zu „reifer Liebe“ aufgerufen. „Manchmal streiten wir uns, das kommt vor. Manchmal fliegen auch die Teller, na gut, das kommt vor“, zitierte die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) den Pontifex. Entscheidend sei, so Franziskus, dass man nie den Tag beende, ohne Frieden zu schließen.
Verletzung in Worte fassen
Erhard Scholl ist anderer Meinung. Scholl war Vorsitzender des Bundesverbandes Katholischer Ehe-, Familien- und Lebensberater und Leiter der Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle in Schweinfurt. Er sagt, am gleichen Tag zu vergeben, kann – je nach Verletzung – den Menschen überfordern. Um zu vergeben, sei es als erstes wichtig, sich Zeit zu nehmen. Das Pauluswort „Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen“ (Epheserbrief 4,26) versteht Scholl vielmehr als Bild und weniger als Auffordern, sich noch am selben Tag zu versöhnen. Es gehe um die grundsätzliche Haltung, die Tür für den Anderen offen zu lassen.
Als zweites sei es wichtig, in Worte zu fassen, was einen so verletzt hat. So lasse sich Abstand gewinnen. Und in einem letzten Schritt müsse die erlittene Verletzung einen Platz im Leben bekommen. Die Narbe bleibt und hin und wieder wird sie weiterhin schmerzen. Entsprechend kann Vergessen nicht das Ziel von Vergeben sein. Aber der Schmerz soll nicht mehr die Macht über das eigene Leben haben. Es gleicht einem Bücherregal. Die Bücher sind zwar im Regal vorhanden, aber der Leser entscheidet selbst, wann er welches Buch hervorholt und aufschlägt.
Vergebung ist nicht Versöhnung
Vergeben sei allerdings nicht dasselbe wie Sich-Versöhnen, führt Scholl weiter aus. Vergeben sei vor allem ein innerer Prozess. Um selbst nicht mehr unter der Verletzung zu leiden und diese akzeptieren zu können, sollte die betroffene Person vergeben. Um nicht innerlich zerfressen zu werden. Erst im Versöhnen kommen die andere Person und die Beziehung zueinander ins Spiel. Die Gründe für das jeweilige Handeln sollten zur Sprache kommen. Gemeinsam kann Versöhnung gelingen.
Wer nicht vergeben kann, verliere positive Lebensenergie und müsse im schlimmsten Fall mit Bluthochdruck, Schmerzen, Schwindel und Schlafstörungen leben, zeigen verschiedene wissenschaftliche Ergebnisse. Scholl nutzt das Bild des Misthaufens, der in Paarbeziehungen entsteht. Negative Erlebnisse häufen sich an. Und irgendwann sei der Punkt erreicht, an dem man es nicht mehr aushalte. Gleichzeitig wüssten viele Paare nicht, wie sie vergeben sollen. „Wo hätten Paare Vergeben lernen können? Vergeben und Verzeihen hat im öffentlichen Diskurs kaum einen Raum“, wirft Scholl ein.
2014 veröffentlichte der Bundesverband der Katholischen Ehe-, Familien- und Lebensberater in Zusammenarbeit mit dem Psychologischen Institut der Technischen Universtität Braunschweig und der Katholischen Hochschule Mainz eine Studie. Ein Drittel der Befragten gab an, dem Partner oder der Partnerin eine erlittene Verletzung gar nicht oder lediglich etwas vergeben zu haben.
Achtung, Teufelskreis
Ein weiteres Ergebnis: die Betroffenen wussten nicht, wie sie der „Opferrolle“ entkommen und das negative Beziehungskarussell unterbrechen konnten. Ein „Teufelskreis des Unversöhnten“ entstand. Die Folge: Nachtragen von Vorwürfen, Sinnen auf Rache, Paare hören auf, miteinander zu reden.
Gerade hier sieht der ehemalige Lebensberater Chancen für die Kirche. Vergeben ist ein zentrales Thema im christlichen Glauben. Kirchen könnten konkrete Hilfestellungen bieten. Lebensberatungsstellen, Seelsorger und Seelsorgerinnen können informieren, wie Vergeben gelingen kann und auf dem Weg des Versöhnens begleiten. Es wäre mehr, als bloß die Forderung zu wiederholen, Christen müssten einander vergeben. Und vielleicht gelingt es dann ja auch häufiger, den Tag erst zu beenden, wenn Frieden geschlossen wurde.
Text: Alexandra Thätner, kath. Sonntagsblatt Würzburg
Sich Hilfe holen: Wer unter Konflikten leidet oder sich in einer anderen schwierigen Lebenssituation befindet, kann sich an eine der zehn Beratungsstellen für Ehe-, Familien- und Lebensfragen in der Diözese Würzburg wenden: www.eheberatung-wuerzburg.de.